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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 05.05.2022:

„Auch Mädchen sind handwerklich-technisch begabt!“

Berufswünsche von Mädchen sind oft durch Rollenklischees eingeschränkt
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Bildrechte: Handwerkerinnenhaus Köln e.V.

Das Handwerkerinnenhaus Köln e.V. (HWH) setzt sich mit verschiedenen Projekten für die Chancengleichheit und Förderung von Mädchen und Frauen im handwerklich-technischen Bereich ein. In den hauseigenen Werkstätten entdecken Mädchen neue Fähigkeiten und eigene Stärken und erweitern damit ihre Berufschancen und -perspektiven.


Mädchen werden Krankenschwestern und Jungen Feuerwehrmänner? Die Geschlechtszugehörigkeit hat noch immer einen großen Einfluss auf das Berufswahlverhalten. Die zehn beliebtesten Ausbildungsberufe von Mädchen und Jungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert: Die meisten Mädchen bevorzugen soziale oder Dienstleistungsberufe, die meisten Jungen streben nach handwerklich-technischen Berufen, obwohl beide auch über die nötigen Kompetenzen für die jeweils „untypischen“ Berufe verfügen. Dadurch bleiben sowohl den Jungen als auch den Mädchen Entwicklungsmöglichkeiten und Berufsperspektiven versperrt.

Eine gendersensible Berufsorientierung unterstützt junge Menschen dabei, ihre individuellen Potenziale und Talente jenseits von Geschlechterklischees zu erkennen und auszubauen. Stereotypen und Klischees werden darin hinterfragt und Jugendliche in ihrer Berufswahl bestärkt. Durch Gespräche mit Arbeitnehmer*innen geschlechtsuntypischer Berufe lernen Jungen und Mädchen Vorbilder kennen. Auch erste Berufserfahrungen helfen ihnen dabei, ihren Lebens- und Berufsweg selbstbestimmt und klischeefreier zu gestalten.

Das Handwerkerinnenhaus Köln
In den Werkstätten des Handwerkerinnenhaus Köln e.V. (HWH) werden Mädchen und junge Frauen an handwerklich-technische Berufe herangeführt. Durch praktische Erfahrungen im Umgang mit Werkzeugen und Maschinen werden Hemmungen abgebaut, bisher unbekannte Fähigkeiten aufgezeigt und ihr Selbstvertrauen gestärkt. „Das Handwerkerinnenhaus besteht seit 1989 und hat das Ziel, Mädchen und Frauen das Handwerk näher zu bringen. Ein engagiertes Team aus Handwerkerinnen, Sozialpädagoginnen, Verwaltungsfrauen und einer Lehrerin unterstützt die Mädchen und Frauen dabei“, erklärt Latifa Bey, Vorstand des HWH. Hier erfahren Mädchen, dass ihnen alle Berufsfelder offenstehen und sie ihr Leben selbstbestimmt und frei von Rollenzwängen gestalten können. Im Herzstück des Handwerkerinnenhauses, der Werkstatt, entdecken sie neue Fähigkeiten und Stärken an sich und erweitern ihre persönlichen Perspektiven und Berufschancen. Sie erleben ganz praktisch, was in ihnen steckt. „Unsere drei voll ausgestatteten Werkstätten sind das zentrale Handlungsfeld bei unserer Arbeit mit den Mädchen im Handwerkerinnenhaus. Hier lernen die Mädchen nicht nur den sicheren Umgang mit Maschinen und Werkzeugen und erwerben Fachkenntnisse in den Bereichen Holz, Glas, Elektrik und Farbe, sondern sie lernen hier auch eine Aufgabe Schritt für Schritt anzugehen. Sie lernen Frustrationstoleranz, Konzentrationsfähigkeit und  Teamarbeit. Aber vor allem lernen sie hier, dass sie viel mehr können als sie selbst und oftmals auch ihr Umfeld glauben“, betont Christiane Lehmann, Tischlerin und Sozialarbeiterin beim HWH.

Das Handwerkerinnenhaus Köln e.V. wird durch öffentliche Mittel, Förderungen von Stiftungen und Spenden finanziert und arbeitet im Netzwerk mit zahlreichen Partnern, wie z.B. Schulen, Handwerkskammern, Handwerksbetrieben und Einrichtungen der Jugendhilfe zusammen.

Projekte für Mädchen
„Mädchenprojekt Zukunft“ nennen die Mitarbeiterinnen des Handwerkerinnenhauses - ausschließlich Frauen - ihre Projekte für Mädchen. „Das Mädchenprojekt Zukunft besteht aus den drei Bausteinen Holly Wood - Berufsorientierung für Mädchen ab Klasse fünf, Pfiffigunde - Prävention von Schulverweigerung und Kneifzange - Intervention bei Schulverweigerung“, so Latifa Bey. Immer im Fokus steht dabei das praktische Arbeiten mit Holz.

„Holly Wood“ bedient ein breites Spektrum an Angeboten wie Beratung, Berufsinformationsveranstaltungen, Praxiskurse und Kooperationen mit Ausbildungsbetrieben. Das Programm kann von Schulen aller Schulformen für ihre Schülerinnen gebucht werden. Vorbehalte von Mädchen (und ihren Eltern) wie „Das ist nichts für mich“, wenn es um handwerklich-technische Berufe geht, werden aus dem Weg geräumt. Stattdessen werden junge Frauen und Mädchen über handwerklich-technische Berufe informiert und bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen unterstützt und sogar bis ins erste Ausbildungsjahr begleitet. Sie lernen Berufe kennen, die sie vorher kaum kannten und niemals für sich selbst in Betracht gezogen hätten. In Zusammenarbeit mit Schulen, der Agentur für Arbeit, der Handwerkskammer, den Innungen und Bildungsträgern sowie ausbildenden Kölner Betrieben wird den Mädchen außerdem eine Fülle an Informationen und Erfahrungen zu Ausbildungs- und Praktikumsplätzen in Handwerk und Technik zur Verfügung gestellt. Auch Besuche zu Ausbildungsstätten gehören dazu, damit sie einen konkreten Eindruck von Betrieben gewinnen, sich austauschen und über Ausbildungsmöglichkeiten informieren können. Weiterhin bekommen sie eine intensive Begleitung und ein Coaching in den Bereichen Berufs- und Lebensplanung.

Handwerkliches Arbeiten
Mit Hilfe oder Dank der Praxisangebote können Mädchen und junge Frauen ab der 5. Klasse ganz praktisch testen, ob sie Spaß am Handwerk haben. Die Angebote sind vielfältig und flexibel. Es gibt sowohl eintägige, mehrtägige als auch fortlaufende Kurse. In Kleingruppen stellen die Mädchen Werkstücke her, die sie anschließend mit nach Hause nehmen können. Im Bereich Holzbearbeitung ist das Werkstück beispielsweise eine Schatzkiste, bei der Glasbearbeitung ein selbst gelöteter Tiffany-Spiegel. Die Teilnehmerinnen haben durch die Arbeit Bekanntschaft mit den wichtigsten Werkzeugen gemacht sowie erste handwerkliche Techniken und Regeln für das Arbeiten in der Werkstatt erlernt. In mehrtägigen Kursen bauen die Mädchen in insgesamt zwölf Stunden Kleinmöbel, wie beispielsweise eine selbst gestaltete Holz-Tischlampe mit elektrischem Anschluss. Neben dem Erwerb handwerklicher Fertigkeiten beim Bau zunehmend anspruchsvoller Werkstücke, trainieren die Mädchen ihre Ausdauer, ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Motorik und ihre Koordination. Sie lernen so teamfähig zu sein und selbständig zu arbeiten. „Ich finde es einfach unglaublich erfreulich und schön und toll mitzuerleben wie Mädchen, die sich am Anfang überhaupt nichts zugetraut haben, hier aufblühen -  die Schultern gehen zurück und sie gehen hier stolz mit ihrem Werkstück nach Hause “, freut sich Christiane Lehmann.

Schulverweigerung vor- und entgegenwirken
Ein weiterer wichtiger Baustein des „Mädchenprojekt Zukunft“ ist die Prävention und Intervention von „schulmüden“ Mädchen. Das Programm „Pfiffigunde“ beugt Schulverweigerung vor. Durch die Arbeit in der Werkstatt und sozialpädagogische Begleitung werden Schulverweigerinnen wirksam und vor allem frühzeitig unterstützt. Durch das Projekt gewinnen die Mädchen wieder Lust am Lernen und damit auch Motivation für die Schule. Die „Pfiffigunde-Kurse“ machen Lernstoff durch das praktische Arbeiten begreifbar, bei dem erst geplant, gerechnet und gemessen wird, bevor gebaut werden kann. Nicht selten glänzen schulschwache Mädchen bei der praktischen Arbeit und können dann endlich einmal anderen helfen. Diese gegenseitigen Hilfestellungen stärken ihr Sozialverhalten und ihr Selbstvertrauen. Der Programm-Baustein „Kneifzange“ ist eine Chance für Schülerinnen im 9. und 10. Schulbesuchsjahr, die den Schulbesuch bereits seit Längerem verweigern. Hier haben die Mädchen die Möglichkeit, wieder Fuß zu fassen und ihren Schulabschluss nachzuholen. In enger Zusammenarbeit mit einer Tischlerin, einer Sozialpädagogin und einer Förderschullehrerin werden die Mädchen in den Räumen des Handwerkerinnenhauses unterrichtet, psychosozial betreut und arbeiten praktisch in der Werkstatt.

Weitere Angebote
Neben den drei Hauptangeboten gibt es Kurse für Grundschülerinnen, für Mädchen mit Fluchtgeschichte, für Frauen, die sich handwerklich fortbilden möchten, Ferienkurse und eine Schülerinnenfirma, in der Mädchen ihre selbst geschreinerten Uhren, Schlüsselbretter, Schlüsselanhänger und vieles mehr auf Märkten, in Läden und auf Anfrage verkaufen. Das Handwerkerinnenhaus Köln bietet auch ein- bis zweiwöchige Raumgestaltungsprojekte an Schulen an, in denen Schülerinnengruppen einen Raum oder den Schulhof renovieren oder neu gestalten können. Außerdem schulen die Mitarbeiterinnen des HWH Fachkräfte in den Bereichen Jugendarbeit, Berufsorientierung, Übergang von Schule zu Beruf mit dem Fokus auf einer gendersensiblen und klischeefreien Berufsorientierung. Betriebe erhalten von ihnen praxisnahe Tipps, wie sie Mädchen und Frauen für ihren Betrieb gewinnen können.

Auszeichnungen und Preise
Für ihre erfolgreiche Tätigkeit wurde das Handwerkerinnenhaus Köln schon mehrfach ausgezeichnet. So erhielt es u.a. das PHINEO WIRKT-SIEGEL 2017 für den Baustein „Holly Wood - Berufsorientierung für Mädchen in Handwerk und Technik“ und 2016 für das „Mädchenprojekt Zukunft“. Auch den Beginenpreis, der jährlich vom Beginen Köln e.V. an ein autonomes Kölner Frauenprojekt vergeben wird, das sich in nachhaltiger Weise für die Förderung von Frauen und Mädchen einsetzt, hat es 2017 erhalten. Der Baustein „Holly Wood“ gilt landesweit als „Good-Practice-Modell“ für die handwerkliche Förderung von Mädchen. Und die beiden Bausteine „Pfiffigunde“ und „Kneifzange“ wurden durch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) ausgewertet und bundesweit als eines von 40 „Good-Practice-Modellen“ im Bereich von Schulmüdigkeit und Schulverweigerung ausgewählt.


Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 05.05.2022
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