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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 19.12.2019:

„Wir hoffen, einen kleinen Beitrag zur inklusiven Entwicklung zu leisten.“

Der Expertenkreis Inklusive Bildung der deutschen UNESCO-Kommission
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Ute Erdsiek-Rave

In der Bildungsagenda 2030, die 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, heißt es, dass bis 2030 für alle Menschen eine inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sichergestellt sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen gefördert werden sollen. Die UNESCO hat die Federführung für die internationale Koordinierung der Bildungsagenda inne. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Ute Erdsiek-Rave, Vorsitzende des Expertenkreises Inklusive Bildung der deutschen UNESCO-Kommission, über die Schwierigkeiten bei der Umsetzung inklusiver Bildung und darüber, wie sie gelingen kann.


Online-Redaktion: Die Forderung nach einer inklusiven Bildung ist integraler Bestandteil der Bildungsagenda 2030, die 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Wie weit ist die Umsetzung fortgeschritten?

Erdsiek-Rave: Inklusion ist in der Agenda 2030 ein Leitprinzip - nicht nur für Bildungsprozesse, sondern insgesamt für eine humane gesellschaftliche Entwicklung. Diese Einbettung ist wichtig und wird von uns immer wieder betont, damit Inklusion nicht isoliert als eine Art Reformprojekt betrachtet wird. Die Deutsche UNESCO-Kommission hat die Agenda Bildung 2030 mit den Verantwortlichen in Bund und Ländern diskutiert, und kürzlich hat die KMK dazu eine wichtige Erklärung abgegeben. Ob das zeitliche Ziel in Deutschland erreicht wird, bezweifle ich aber.

Online-Redaktion: Welche Schwierigkeiten gibt es, und wo und wie wird Inklusion schon erfolgreich umgesetzt?

Erdsiek-Rave: Die Schwierigkeiten ergeben sich zum einen aus der in Deutschland tief verwurzelten Überzeugung, dass ein gegliedertes Schulwesen einschließlich der Sonderschulen allen Kindern am besten gerecht wird. Zum anderen fehlt es noch an einer ausreichenden Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte und an guten Unterstützungssystemen. Inklusion wird in den Bundesländern sehr unterschiedlich und mehr oder weniger engagiert umgesetzt. Dort, wo schon eine langjährige Erfahrung mit der Integration von Menschen mit Behinderungen vorhanden war, gelingen die Umstellung und der Perspektivenwechsel auf eine inklusive Schule deutlich leichter. Am erfolgreichsten sind die Regionen und Kommunen, die auf Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen Schule und Umfeld setzen und Inklusion nicht allein der Einzelschule überlassen.

Online-Redaktion: Wie viele Kinder werden mittlerweile inklusiv beschult?

Erdsiek-Rave: Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist der Anteil der Kinder mit Förderbedarf, die inklusiv beschult werden, von ca. 18 Prozent auf 40 Prozent gestiegen. Das ist zunächst einmal ein positiver Wert. Die Bandbreite ist aber groß, sie reicht von über 80 Prozent etwa in Bremen und Schleswig-Holstein bis zu ca. 21 Prozent in Hessen. Gleichzeitig ist aber der separierende Unterricht in Förderschulen, also die Exklusionsquote nur marginal gesunken. Mehr Kinder werden als förderbedürftig diagnostiziert, besonders im Bereich sozial-emotionale Entwicklung. Leider gibt es auch noch keine einheitlichen Standards für die Diagnose. Die Chance auf Inklusion für ein Kind hängt also vom Wohnort ab und vom Förderbedarf. Von Gleichheit der Lebensverhältnisse kann hier nicht die Rede sein. Das ist die schlechte Nachricht.

Online-Redaktion:
Wie müssen sich die Bildungssysteme in Deutschland verändern, damit Inklusion gelingt?

Erdsiek-Rave: Mit der Entwicklung zur Zweigliedrigkeit des Schulsystems in Deutschland ist für mehr Kinder die Chance auf gemeinsamen Unterricht gestiegen. Dieser Trend muss sich fortsetzen. Zudem muss Inklusion in allen Schularten gelten, auch da wo die Bildungsziele der Schüler ganz unterschiedlich sind. Dafür brauchen Lehrkräfte erhebliche Unterstützung, aber auch die entsprechende Haltung und positive Einstellung. Ein großes Problem sind nach wie vor die Übergänge in die Ausbildung und die Arbeitswelt. Viel zu viele Jugendliche finden diesen Weg nicht, sie brauchen mehr Bereitschaft von Unternehmen und Arbeitgebern, ihnen eine Chance zu geben. Und in den Schulen müssen sie noch mehr auf den Übergang vorbereitet werden.

Online-Redaktion: Sollte es Förderschulen gar nicht mehr geben?

Erdsiek-Rave: Die Deutsche UNESCO-Kommission hat in zwei wichtigen Resolutionen gefordert, die Sonderschulen „planvoll und schrittweise in das allgemeine Schulsystem zu überführen“. Das gilt sowohl für das Schul- als auch das Ausbildungssystem: so wenig Sonderwege und gesonderte Institutionen wie möglich. Das Recht auf inklusive Beschulung gilt für alle jungen Menschen, unabhängig von der Art und Schwere ihrer Behinderung. Das Schulsystem muss sich so entwickeln, dass dies möglich ist. Das ist das Herzstück der Inklusion.

Online-Redaktion: In dem Expertenkreis Inklusive Bildung der deutschen UNESCO-Kommission wirken dreißig zentrale Akteure der inklusiven Bildung in Deutschland mit, die vom Vorstand der Deutschen UNESCO-Kommission berufen worden sind. Wie trägt der Expertenkreis dazu bei, die Umsetzung von Inklusion in Deutschland voranzutreiben?

Erdsiek-Rave: Der Expertenkreis ist so zusammengesetzt, dass sowohl wissenschaftliche Expertise als auch gesellschaftliche Gruppen, Betroffenenorganisationen und öffentliche Vertreter ihr Wissen und ihre Erfahrungen austauschen, sich untereinander vernetzen. Wir erarbeiten Empfehlungen und Leitlinien, beraten und unterstützen, versuchen immer wieder aufs Neue, in unseren jeweiligen Arbeitsbereichen die Entwicklung voranzutreiben. Das tun wir seit fast zehn Jahren und hoffen, dass wir einen kleinen Beitrag zur inklusiven Entwicklung leisten.

Online-Redaktion: Der Expertenkreis vergibt gemeinsam mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und der Bertelsmann Stiftung den Jakob Muth-Preis für inklusive Schule. Was machen die Preisträger so besonders gut?

Erdsiek-Rave: Die Jakob-Muth-Preis-Schulen gehören zu den Vorbildern für inklusive Entwicklung. Sie zeigen anderen, wie es gelingen kann - und zwar auf höchst unterschiedliche Weise. Ein Patentrezept kann daraus nicht abgeleitet werden, das kann es auch nicht geben. Mir scheint immer wieder die Schulleitung eine Schlüsselrolle zu spielen. Mit einer engagierten Leitung, klarer Haltung und Motivation entsteht ein ebensolches Kollegium, das Wege zur Inklusion erarbeitet.

Online-Redaktion: Halten Sie es für realistisch, dass inklusive Bildung bis 2030 weltweit etabliert wird?

Erdsiek-Rave: Wenn wir uns in der Welt umschauen, sehen wir leider eher eine Tendenz zur Abschottung als zur Bereitschaft, gemeinsame Ziele zu verfolgen. Das gilt auch innerhalb unserer Gesellschaft. Dem müssen wir entschieden entgegentreten und nicht nachlassen oder resignieren.


Ute Erdsiek-Rave, ausgebildete Lehrerin, gehörte als Abgeordnete zwischen 1987 und 2009 dem Landtag von Schleswig-Holstein an und war von 1998 bis Juli 2009 Bildungsministerin des Landes. Derzeit ist sie Vorsitzende des Expertenkreises Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission.



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 19.12.2019
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