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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 23.01.2020:

„Der politische Wille fehlt.“

Zur Umsetzung inklusiver Bildung in Deutschland
Das Bild zum Artikel
Dr. Susann Kroworsch
Bildrechte: Deutsches Institut für Menschenrechte/Anke Illing

Seit 2009, dem Jahr des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, befindet sich die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Dr. Susann Kroworsch über die Arbeit der Monitoring-Stelle und den Stand der Umsetzung inklusiver Bildung in Deutschland.

Online-Redaktion: Was sind die Aufgaben der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention?

Kroworsch: Der Auftrag der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention leitet sich direkt aus der UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 33 Absatz 2, ab: Ihre Aufgabe ist es, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu fördern, ihre Rechte zu schützen und zu überwachen. Wir verstehen unsere Aufgabe als eine kritische, konstruktive Begleitung der Umsetzung, nach dem Begriff „monitor“, englisch für beobachten, kontrollieren.

Online-Redaktion: Wie verschafft sich die Monitoring-Stelle einen Überblick über die Situation von Menschen mit Behinderungen in Deutschland?

Kroworsch: Einerseits betreiben wir Recherchen, um uns ein Bild von den Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und den aktuellen Entwicklungen zu machen, d.h. wir fertigen wissenschaftliche Studien an, beschaffen uns aber auch Informationen durch gezielte Aufträge. Daneben führen wir Veranstaltungen durch, beispielsweise regelmäßige Treffen mit Behindertenverbänden und Menschen mit Behinderungen sowie den Behindertenbeauftragten auf Bundes- und auf Landesebene. Wichtige Informationen erhalten wir auch durch Berichte und Eingaben von Einzelpersonen.

Online-Redaktion:
Mit wem arbeitet die Monitoring-Stelle zusammen, um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu gewährleisten?

Kroworsch: Wir sind im Gespräch mit allen. Wir arbeiten neben der Zivilgesellschaft eng mit den Ministerien von Bund und Ländern zusammen, dort vor allem mit den so genannten Focal Points, das sind die nach der UN-Behindertenrechtskonvention definierten staatlichen Stellen, die federführend zuständig sind für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Wir sind in Anhörungen zu Gesetzgebungsverfahren und in Beratungsgremien von Ministerien und Behörden beteiligt. Die Zusammenarbeit findet oft und gerade deshalb statt, weil wir unterschiedliche Auffassungen haben. Daneben kooperieren wir mit den Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten sowie den politischen Behindertenverbänden und beraten Akteure aus der Zivilgesellschaft. Dort, wo Belange von Menschen mit Behinderungen ausgehandelt werden, versuchen wir uns einzubringen und uns weiter zu vernetzen.

Online-Redaktion: Tauschen Sie sich auch mit anderen Nationen aus, die die UN-Behindertenkonvention unterzeichnet haben?

Kroworsch:
Ja, wir tauschen uns regelmäßig mit anderen Ländern über unsere Erfahrungen in dem Netzwerk „European Network of National Human Rights Institutions (ENNHRI)“ aus, an dem Menschenrechtsinstitutionen aus den EU-Staaten beteiligt sind, die die Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben. Austausch erfolgt auch in dem etwas größeren Netzwerk „Global Alliance of National Human Rights Institutions (GANHRI)“. In beiden geht es auch um andere Themen.

Eine wichtige Zusammenarbeit ist vor allem auch die Arbeit mit dem UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf, das ist das Gremium, das die Umsetzung der Konvention in den Mitgliedstaaten überwacht und kontrolliert. Jeder Mitgliedsstaat muss ihm regelmäßig Bericht über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erstatten. Wir nehmen dann beispielsweise Stellung zum Bericht der Bundesregierung und versuchen, Perspektiven zu ergänzen, damit der Ausschuss ein umfassendes Bild von der Situation in Deutschland erhält.

Online-Redaktion: Das Recht auf inklusive Bildung stellt Deutschland vor große Herausforderungen. Wie weit ist die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungsbereich in den vergangenen zehn Jahren vorangeschritten?

Kroworsch: Wir haben im vergangenen Jahr zum 10-jährigen Jubiläum der UN-Behindertenrechtskonvention den Bericht „Wer Inklusion will, sucht Wege – Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention“ veröffentlicht, in dem wir versucht haben, eine vorläufige Bilanz zu ziehen, inwiefern die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den verschiedenen Lebenslagen vorangeschritten ist. Der Bericht enthält auch ein Kapitel zum Recht auf inklusive Bildung. Unsere Bilanz fällt ernüchternd aus. Auch wenn sich seit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland im Bereich inklusive Bildung schon viel getan hat, muss man doch mit Blick auf das deutsche Schulsystem sagen, dass es nach zehn Jahren deutlich zu wenig ist und der Umsetzungsstand weit hinter den Erwartungen zurück bleibt. Auch wenn einzelne Bundesländer zwar entscheidende gesetzliche Schritte hin zu einem inklusiven Schulsystem gegangen sind und zum Teil auch beeindruckende praktische Erfolge zu verzeichnen haben, ist in keinem Bundesland, und das kann man so deutlich sagen, der notwendige gesetzliche Rahmen – geschweige denn die Praxis – für die Schärfung und Gewährleistung eines inklusiven Schulsystems abschließend entwickelt worden. Von einem inklusiven Schulsystem kann nirgendwo die Rede sein, es ist maximal ansatzweise in einzelnen Einrichtungen oder regional gelungen, qualitativ hochwertige inklusive Bildung anzubieten.

Online-Redaktion: Haben die Länder denn kein großes Interesse daran, ihr Schulsystem inklusiv zu gestalten?

Kroworsch: Während es Bundesländer gibt, die den Auftrag zur Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems engagiert angenommen haben, gibt es andere, die sich nicht hinreichend für die Sache einsetzen. Vielfach deckt sich das Verständnis, das die Regierungen von Inklusion haben, auch nicht mit dem menschenrechtlichen Verständnis von inklusiver Bildung. Beispielsweise wird häufig noch mit dem Wahlrecht der Eltern argumentiert. Man kann zwar Eltern verstehen, die ihre Kinder auf der Förderschule gut betreut wissen möchten, solange es noch kein richtiges inklusives System gibt, dennoch widerspricht das dauerhafte Vorhalten einer Wahlmöglichkeit der Verpflichtung aus der UN-Behindertenrechtskonvention, wonach eine inklusive Schulstruktur den Bedürfnissen eines jeden Kindes gerecht werden muss. Der UN-Fachausschuss hat in seiner Allgemeinen Bemerkung zum Recht auf inklusive Bildung noch einmal deutlich hervorgehoben, dass es dem Verständnis eines inklusiven Schulsystems widerspricht, Doppelstrukturen aufrecht zu erhalten. Die Umsetzung eines inklusiven Schulsystems wird solange nicht gelingen, bis die Politik bereit ist, die vorhandenen Kapazitäten der sonderpädagogischen Förderung zu integrieren. 

Online-Redaktion: Wie viele Kinder mit Beeinträchtigungen werden noch an Förderschulen beschult?

Kroworsch: Vom Schuljahr 2008/2009 zum Schuljahr 2016/2017 ist die Exklusionsquote, also die Quote der Schülerinnen und Schüler, die außerhalb des allgemeinen Schulsystems unterrichtet werden, nur von 4,9 auf 4,3 Prozentpunkte gesenkt worden. Es werden also immer noch viel zu viele Kinder außerhalb des allgemeinen Schulsystems unterrichtet. Außerdem sind die Zahlen über Schulabschlüsse deprimierend. Die wenigsten Kinder verlassen Förderschulen mit einem Schulabschluss. Umso bedauerlicher ist der Trend, den wir derzeit in einigen Bundesländern beobachten, dass wieder mehr Förderschulen geöffnet werden sollen.

Online-Redaktion: Gibt es Beispiele gelingender Inklusion an Schulen?

Kroworsch: Es gibt einzelne, auch ganz beeindruckende Modelle. Ich glaube, dass der Jakob Muth-Preis ein toller Marker ist, um sich die verschiedenen denkbaren Modelle anzusehen, aber es bleiben Leuchtturmprojekte. Es fehlt an der Vernetzung, um sie breiter bekannt zu machen, und es fehlt vor allem an der Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern, damit einheitliche Standards hergestellt werden.

Online-Redaktion: Was sind die größten Hürden für die Bundesländer? Woran hapert es? 

Kroworsch: Nach unserer Einschätzung fehlt vor allem ein unbedingter politischer Wille, inklusive Bildung nicht nur rhetorisch zu unterstützen, sondern auch die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und Bildungspolitik nach einem menschenrechtlichen Begriff von Inklusion auszurichten. Es hilft ja nichts, überall Inklusion rauf- und reinzuschreiben und dann werden davon nach dem Verständnis der Bildungspolitiker auch die Förderschulen erfasst. Es braucht mehr als eine rein organisatorische Veränderung der Schulstruktur, der Unterricht muss sich viel mehr für die unterschiedlichen Bedarfe der Kinder öffnen. Und dafür braucht es vor allem auch verbindliche unterrichtsbegleitende Fortbildungsprogramme - und nicht nur einzelne Veranstaltungen -, in denen Lehrkräften Inklusionspädagogik vermittelt wird.

Online-Redaktion: Gibt es ein Bundesland, das sich positiv hervorhebt?

Kroworsch: Die Stadtstaaten sind recht gut, vor allem Bremen hat sich der Ausgestaltung eines inklusiven Schulsystems bereitwilliger angenommen als andere Bundesländer. Sie haben es geschafft, dass viele Kinder mit Behinderungen in der allgemeinen Schule unterrichtet werden. Mit 1,2 Prozent Exklusionsquote setzt sich Bremen, aber auch beispielsweise Schleswig-Holstein mit einer Quote von 2,1 Prozent, deutlich vom Bundesschnitt mit 4,3 Prozent und anderen Ländern, wie Sachsen Anhalt oder Mecklenburg Vorpommern ab, die mit 5,9 bzw. 6 Prozent auf den letzten Plätzen rangieren.

Online-Redaktion: Sie beraten auch einzelne Bundesländer?

Kroworsch: Ja, unser Monitoringauftrag umfasst auch die Länderebene. Eine Besonderheit bildet Nordrhein-Westfalen, es ist das einzige Bundesland, das gesetzlich geregelt hat, dass es sich bei der Umsetzung von einer unabhängigen Stelle - der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention - begleiten lassen will, seit 2017 sind wir dort verstärkt aktiv. Wir führen aber auch projektbezogene Beratung der Länder, etwa Normprüfungen, durch. Das kann aber ein dauerhaftes Monitoring nicht ersetzen, das im Übrigen auch die UN von den Ländern 2015 ausdrücklich gefordert hat.

Online-Redaktion: Welche Ideen hat die Monitoring-Stelle dazu, wie die Umsetzung von inklusiver Bildung gelingen könnte und wie setzt sie sich dafür ein?

Kroworsch: Die Monitoring-Stelle gibt seit 2009 stetig Empfehlungen zur Umsetzung. Hier sind beispielsweise die Eckpunkte zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems aus dem Jahr 2011 zu nennen, die nichts an ihrer Gültigkeit verloren haben, und den Ländern eine klare Orientierung für die Umsetzung der Verwirklichung eines Bildungssystems bieten können. Auch wenn Bildung Ländersache ist, sind wir der Meinung, dass es einer finanziellen Unterstützung des Bundes bedarf, Mittel für inklusive Bildung bereitzustellen. Wir haben deswegen in unserem Jubiläumsbericht, den wir 2019 veröffentlichten, auch Empfehlungen an den Bund formuliert. Darin haben wir vorgeschlagen, in einen Pakt für Inklusion zu investieren, der die Länder dabei unterstützt, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Darüber hinaus haben wir die Empfehlung an Landesregierungen formuliert, Gesamtkonzepte, die die Schließung von Förderschulen in absehbarer Zeit umfassen, mit verbindlichen Zeitplänen, mit Zwischenschritten und klar formulierten Zielen zu entwickeln, die die Umschichtung finanzieller und personeller Ressourcen beinhalten. Im Rahmen solcher Gesamtkonzepte sollten auch pädagogische Ideen zur Entwicklung eines inklusiven Schulkonzepts vorgelegt werden, damit nicht jede Schule die Entwicklung eines solchen Konzepts selbst vornehmen muss und dabei sich selbst überlassen ist.

Online-Redaktion: Was machen andere Länder besser als Deutschland?

Kroworsch: Viele Länder haben schon viel früher mit inklusiver Bildung begonnen als Deutschland, lange vor der Behindertenrechtskonvention. In Deutschland sind die Doppelstrukturen historisch stark gewachsen. In anderen Gesellschaften wird nicht so stark ausgesondert wie bei uns, wo man von einer Sonderwelt in die andere kommt, von der Förderschule in die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen und in stationäre Wohneinrichtungen. Länder wie Italien oder die skandinavischen Staaten, die gern zitiert werden, haben Doppelstrukturen, insofern sie sie überhaupt hatten, schon viel früher abgebaut. In Deutschland ist auch die Ausbildung in Sonderpädagogik oder Pädagogik unterteilt, das gibt es in anderen Ländern so nicht.

Solange wir die systemische Reform nicht vollzogen haben, also nicht nur Gesetze aufgestellt, sondern auch die Finanzierung, Konzepte, Bildungs- und Ausbildungsinhalte sowie Lehrmethoden hin zu einem Bildungssystem angepasst und die Doppelstrukturen von allgemeiner und Förderschule überwunden haben, werden wir nicht von einem inklusiven Bildungssystem in Deutschland sprechen können.


Dr. Susann Kroworsch arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte. Die Juristin hat zum Thema „Das Recht von Frauen und Mädchen auf Bildung – Indikatoren zur Umsetzung“ promoviert. Zu ihren Veröffentlichungen im Bereich Recht auf inklusive Bildung zählen: Kroworsch (Hrsg.), Inklusion im deutschen Schulsystem – Barrieren und Lösungswege (2014); Aichele/Kroworsch, Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht – Warum es die inklusive Schule für alle geben muss (2017); Kroworsch, Das Recht auf inklusive Bildung – Allgemeine Bemerkung Nr. 4 des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2017); Kroworsch, Menschen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen – Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Bereichen Wohnen, Mobilität, Bildung und Arbeit (2019).



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 23.01.2020
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