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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 02.02.2023:

„Empirisches Wissen ist als ein Angebot an die Praxis zu verstehen.“

Das Metavorhaben „Qualitätsentwicklung für gute Bildung in der frühen Kindheit“
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Dr. Regine Schelle

Im Rahmen der BMBF-Förderrichtlinie „Qualitätsentwicklung für gute Bildung in der frühen Kindheit“ wurden von 2018 bis 2023 zehn Forschungsprojekte gefördert, die durch das Metavorhaben der Förderrichtlinie am Deutschen Jugendinstitut (DJI) begleitet wurden. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Dr. Regine Schelle, wissenschaftliche Referentin im DJI, über die Ziele und Ergebnisse des Metavorhabens.


Online-Redaktion: Frau Dr. Schelle, Sie sind am DJI mitverantwortlich für das Metavorhaben „Qualitätsentwicklung für gute Bildung in der frühen Kindheit“. Wie wichtig sind Forschungsprojekte zur frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung?

Schelle: Die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, welche große Bedeutung die Kindertagesbetreuung für Kinder und Familien einnimmt und welche Anforderungen an sie gestellt werden: Sie soll frühkindliche Bildungsprozesse unterstützen, Bildungsungleichheiten abbauen, präventiv gegen Familienarmut im Sozialraum wirken oder auch inklusive Prozesse und gesellschaftliche Teilhabe voranbringen. Damit wird durch frühe Bildung ein wichtiger Grundstein für unser demokratisches Zusammenleben gelegt. Entsprechend ist es wichtig, besser zu verstehen, wie pädagogische Prozesse in der Kindertagesbetreuung von hoher Qualität ablaufen können, denn nur dann entfalten sie Wirksamkeit für Kinder und Familien. Qualitätsentwicklung im System der frühen Bildung durch empirische Forschung zu begleiten, sollte deshalb unbedingt weiter ausgebaut werden.

Online-Redaktion: Welchen Auftrag hatte die BMBF-Förderrichtlinie „Qualitätsentwicklung für gute Bildung in der frühen Kindheit“?

Schelle:
Die BMBF-Förderrichtlinie ist in diesem Kontext ein wichtiger Meilenstein für die Qualitätsforschung im System der frühen Bildung. Die zehn Forschungsprojekte, die in ganz Deutschland gefördert wurden, gingen unterschiedlichen Fragestellungen zur Qualität im System der frühen Bildung nach, forschten nach Faktoren, die die pädagogische Qualität beeinflussen und untersuchten, wie Qualität weiterentwickelt werden kann. Sie haben das auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit ganz unterschiedlichen Akteur*innen gemacht, um sich der Komplexität des Arbeitsfeldes anzunähern.

Online-Redaktion: Können Sie Beispiele nennen?

Schelle: Es gab zum Beispiel Projekte zur Vernetzung von Kitas im Sozialraum, zur Zusammenarbeit mit den Eltern, zur kindlichen Perspektive auf Qualität, zur Arbeit von Trägern und Leitung, zum Aufnahmeverfahren oder zur sprachlichen Bildung. Dabei waren unterschiedliche Akteur*innen, wie Leitungskräfte, pädagogische Fachkräfte, Eltern, Kinder, öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe und Trägervertreter*innen frühkindlicher Bildungseinrichtungen in die Forschung involviert und ihre unterschiedlichen Perspektiven und Erwartungen wurden in den Vordergrund gerückt. So konnte auf die vielfältigen Faktoren, die Qualität in der Kita beeinflussen, ein weiter Blick geworfen werden. Ich sehe es als besondere Stärke, dass die zehn Forschungsprojekte der BMBF-Förderrichtlinie Themen aufgegriffen haben, die bislang wenig erforscht waren. Da der Systemgedanke im Fokus stand, kann man das Zusammenspiel zwischen den Akteur*innen im komplexen System der frühen Bildung besser nachvollziehen.

Online-Redaktion: Die Forschungsprojekte der Förderrichtlinie wurden durch das Metavorhaben „Qualitätsentwicklung für gute Bildung in der frühen Kindheit“ (Meta-QEB) am Deutschen Jugendinstitut begleitet. Was waren die Ziele des Metavorhabens?

Schelle: Das Metavorhaben zielte vor allem darauf ab, die Kooperation und Vernetzung zwischen den zehn Forschungsprojekten zu stärken sowie die Publikation und den Transfer ihrer Ergebnisse zu unterstützen. Wir haben regelmäßig Vernetzungs- und Arbeitstreffen mit den Wissenschaftler*innen durchgeführt, gemeinsame Veranstaltungen organisiert und auch gemeinsame Publikationen auf den Weg gebracht. Wir haben uns im Metavorhaben grundsätzlich auch noch einmal der Frage gewidmet, wie ein Transfer von Forschungsergebnissen im System der frühen Bildung ablaufen kann, welche Bedingungen für einen Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse wichtig sind und wie neue empirische Ergebnisse von pädagogischen Fachkräften wahrgenommen und aufgegriffen werden. Dazu haben wir uns intensiv mit theoretischen Modellen aus der Transferforschung beschäftigt und eine qualitative Studie durchgeführt, um uns den Perspektiven der Forschenden und der pädagogischen Fachkräfte anzunähern und zu begreifen, was sie unter Transfer verstehen.

Online-Redaktion: Wie haben Sie die an der Förderrichtlinie beteiligten Wissenschaftler*innen darin eingebunden?

Schelle: In unserer empirischen Arbeit wurden die Forschenden selbst zu Beforschten. Das war ein spannender Rollenwechsel. Wir haben zehn Expert*innen-Interviews mit den Wissenschaftler*innen durchgeführt und sie dazu befragt, was sie unter Transfer verstehen und wo sie wichtige Gelingensbedingungen und Herausforderungen für Transfer sehen. Darüber hinaus stand im Fokus, welche Ziele die Forschenden selbst für Transfer in den Projekten setzen und wie sie diese Prozesse gestalten.

Online-Redaktion: Worum ging es in den Gesprächen mit den Fachkräften aus der Praxis?

Schelle: Es war uns ganz wichtig, auch die Perspektive der pädagogischen Fachkräfte auf Transferprozesse kennenzulernen, weil sie an den Schlüsselpositionen agieren und durch ihr professionelles pädagogisches Handeln hohe Qualität herstellen sollen. Also drängte sich aus unserer Sicht die Frage auf, welche Bedeutung empirisches Wissen für sie einnimmt, wie sich die Fachkräfte in der Kooperation mit der Forschung selbst erleben, welche Erwartungen sie in Bezug auf die Forschungsergebnisse haben und wie sie sich von Forschung und Wissenschaft wahrgenommen fühlen. Wir haben in fünf Kitateams Gruppendiskussionen durchgeführt, um zu diesen Fragen einen Einblick zu bekommen. Die Gruppendiskussionen waren sehr spannend und erkenntnisreich. Wir haben festgestellt, dass es teilweise eine große Unsicherheit gibt, was Ziel und Aufgabe von Forschung in der frühen Bildung ist, und dass der Veränderungsdruck von Praxis als große Belastung wahrgenommen wird.

Online-Redaktion:
Zu welchem Ergebnis sind Sie im Metavorhaben gekommen? Wie gestaltet sich der Wissenstransfer? Unter welchen Bedingungen kann er von Ergebnissen aus der Forschung in die Politik und Praxis gelingen und so zu einer Qualitätsentwicklung in der frühen Bildung beitragen?

Schelle: Aus unserer Sicht ist aufbauend auf unseren theoretischen Vorarbeiten ein ganz zentrales Ergebnis, dass empirisches Wissen aus Forschungsprojekten nicht eins zu eins in die Praxis übertragen werden kann. Neuere Theorien aus der Transferforschung gehen davon aus, dass es sich beim Prozess des Wissenstransfers nicht so verhält, dass Wissenschaft etwas anbietet, was Praxis übernimmt und ins eigene Handeln übersetzt, sondern dass empirisches Wissen als ein Angebot an die Praxis zu verstehen ist und dieses Wissen dann mit der eigenen Systemlogik neu bewertet wird. Empirisches Wissen wird von den Praktiker*innen überdacht, bewertet, verändert. Diesen Prozess bezeichnet man in der neueren Transferforschung als Wissenstransformation. Es ist ein dialogischer Prozess zwischen Praxis und Wissenschaft, denn auch Wissenschaft transformiert Wissen, das sie aus der Praxis zum Beispiel in Form von Interviews erfährt. Wenn sich Forschende mit Praktiker*innen treffen, verstehen beide vermutlich die Perspektive der anderen Person besser. Empirisch betrachtet, zeigen uns aber die Gruppendiskussionen und auch die Expert*innen-Interviews, dass Berührungspunkte zwischen Praxis und Forschung nicht selbstverständlich sind. Praxis und Forschung werden als getrennte Welten wahrgenommen. Es gibt wenig Austausch, es fehlt häufig an gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung. Dennoch betrachten sowohl Forschende als auch die pädagogischen Fachkräfte einen Dialog als sehr wünschenswert und gewinnbringend. Deshalb bleibt es aus unserer Sicht eine zentrale Herausforderung, Berührungspunkte bzw. eine Infrastruktur zu schaffen und die Lücke zwischen Forschung und Praxis zu überwinden, damit Wissenstransfer nachhaltig gestalten werden kann.

Online-Redaktion: Welche Fragen und Thesen standen auf der Abschlusstagung der BMBF-Förderrichtlinie „Qualitätsentwicklung für gute Bildung in der frühen Kindheit“ im Fokus?

Schelle: Im Vordergrund standen die Ergebnisse der zehn Forschungsprojekte. Sie wurden in unterschiedlichen Foren vorgestellt und diskutiert. Begleitend dazu gab es drei Keynotes: Frau Professorin Yvonne Andres (Universität Bamberg), die die Qualitätsdebatte in der frühen Bildung grundsätzlich beleuchtete, Professor Werner Thole (TU Dortmund), der über die Beteiligung von Kindern und deren Relevanz für Qualitätsentwicklung referierte sowie Dr.‘in Veronika Manitius vom QUA-LiS NRW, die einen Impuls zu Strategien des Transfers durch regionale Netzwerke im Schulbereich lieferte, wie er in NRW verfolgt wird. Zum Abschluss gab es ein Podiumsgespräch mit Professorin Karin Böllert (AGJ), Professorin Susanne Viernickel (Universität Leipzig), Professor Peter Cloos (Universität Hildesheim) und Professor Bernhard Kalicki vom Deutschen Jugendinstitut über Handlungs- und Forschungsbedarfe in der frühen Bildung.

Online-Redaktion: Wo sehen Sie künftig noch Handlungs-, Entwicklungs- und Forschungsbedarf in der Qualitätsentwicklung für gute Bildung in der frühen Kindheit?

Schelle: Wie eingangs erwähnt, sind die Anforderungen an das System der Kindertagesbetreuung sowie die gesellschaftliche Bedeutung der Kindertagesbetreuung enorm hoch. Diese Erwartungen sind mit Anforderungen an das Personal bzw. an die Aus- und Weiterbildung und die strukturellen Rahmenbedingungen verbunden. Die Rahmenbedingungen in der Praxis reichen aber oft nicht aus, um den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Gute Rahmenbedingungen für Kitas bereitzustellen ist deshalb aus meiner Sicht auch angesichts des Personalmangels eine der größten Herausforderungen. Zudem sind aber auch innovative pädagogische Konzepte und Unterstützungsstrukturen im Sozialraum wichtig, damit die steigenden Anforderungen gut umgesetzt werden können. Diese Prozesse sollten empirisch begleitet werden, damit das professionelle Handeln der Fachkräfte unterstützt werden kann. Hier finden sich weiterhin Forschungslücken. Aus Sicht unseres Metavorhabens zeigt sich auch eine Forschungslücke bezogen auf die Transferforschung. Wenn der Anspruch formuliert wird, dass empirisches Wissen zur Weiterentwicklung pädagogischer Praxis beitragen soll, müssen wir auch Kenntnisse dazu generieren, wie eine Kooperation zwischen Praxis, Politik und Forschung gewinnbringend und nachhaltig gestaltet werden kann.


Dr. Regine Schelle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Jugendinstitut, Abteilung Kinder und Kinderbetreuung in München. Ab März 2023 wird sie eine Professur für Kindheits- und Sozialpädagogik an der Hochschule München übernehmen. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen, Professionalisierung, didaktischem Handeln in der Kindheitspädagogik sowie dem Transfer empirischer Erkenntnisse.



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 02.02.2023
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