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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 17.11.2003:

Sprachförderung - systematisch und nachhaltig

Förderung der kognitiven Entwicklung von Kindern schon im vorschulischen Bereich
Das Bild zum Artikel
Prof. Ingrid Gogolin

Einführung in das Gutachten "Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund"

PISA hat einen folgenreichen Missstand aufgedeckt: Das gegliederte Schulsystem in Deutschland benachteiligt Kinder mit Migrationshintergrund schwer und bringt sie um ihre Lebenschancen. Die Förderung dieser Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland, das de facto Einwanderungsland geworden ist, nicht selbstverständlich.

Die "Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung" (BLK) hat daher ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die Förderung von zugewanderten Jugendlichen im Rahmen eines BLK-Programms vorbereiten soll.

Das Gutachten "Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund" erörtert die Voraussetzungen für geeignete Fördermaßnahmen und entwickelt Vorschläge für ein Innovationsprogramm zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Es wurde unter der Federführung von Prof. Ingrid Gogolin in Zusammenarbeit mit Prof. Ursula Neumann und Prof. Hans-Joachim Roth entwickelt.

Interview mit Prof. Ingrid Gogolin   

Bildung Plus: Cem Özdemir von den Grünen/ Bündnis 90 hat jüngst in einem Interview mit der "taz" gesagt er kenne das Gefühl, sich in einem Hamsterrad zu bewegen. "Egal, was man tut - man wird nie als Bürger anerkannt. Und weiter: "Das Ziel muss die farbenblinde Gesellschaft sein ... und dass ausschließlich die Qualifikation zählt". Trifft es wirklich zu, dass auch die Kinder von Migranten keine Chance zur vollen Integration im deutschen Bildungssystem bekommen?

Gogolin: Wenn man die Vergangenheit betrachtet, ist die Bemerkung zutreffend. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben beträchtlich geringere Chancen, den gleichen schulischen Erfolg zu erzielen, wie Kinder aus nicht zugewanderten Familien. Ich würde allerdings nicht sagen, dass das ein unabänderliches Schicksal ist. Außerdem ist es sicher nicht absichtlich so gewollt.

Die Bundesrepublik hat nirgendwo ein Statut verfasst, in dem steht: wir möchten die Kinder Zugewanderter benachteiligen. Im Gegenteil: Auf der Ebene der bildungspolitischen Rhetorik ist völlig klar, dass Kinder aus zugewanderten Familien die gleichen Chancen haben sollen, wie alle anderen auch. Richtig ist allerdings, dass diese Rhetorik in der Praxis nicht eingelöst wird. Deshalb muss man sich politisch dafür einsetzen, dass die Chancen größer werden, diese Versprechungen auch einzulösen.

Bildung Plus: Tritt die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund momentan auf der Stelle?

Gogolin: Diese Frage kann ich ganz klar mit Nein beantworten, im Gegenteil: Im Moment herrscht ironischerweise so etwas wie ein blinder Aktionismus. Es wird an allen möglichen Stellen reagiert, teilweise sogar sehr überzogen. Man kann dann bereits jetzt wissen, dass manche Reaktion unzureichend sein wird, weil sie in die falsche Richtung geht.

Bei vielen beobachtbaren Aktivitäten wird nicht berücksichtigt, wie man Bildung und Förderung besser gestalten kann. Dabei weiß man darüber viel, zum Beispiel aus anderen Staaten oder aus Untersuchungen über erfolgreiche Schulen.

Ein Problem, das wir in Deutschtand generell haben, ist, dass die Förderung der zugewanderten Kinder und Jugendlichen in Deutschland nur punktuell geschieht und nicht systematisch und nachhaltig durch die gesamte Bildungsbiographie hindurch.

Bildung Plus: Welche Ansätze hat man in Deutschland entwickelt, um die Probleme der Integration und Förderung dieser benachteiligten Kinder und Jugendlichen zu lösen?

Gogolin: Hier bei uns ist vor allem ist die Förderung von Kindern entwickelt worden, die neu kommen. Sobald diese aber in eine Regelklasse übergegangen sind, hört die systematische Förderung auf. Das verkennt die besonderen Bildungsbedürfnisse der Kinder mit Migrationshintergrund. Denn die Ansprüche, die das Bildungssystem stellt, entwickeln sich ständig im Bildungsprozess weiter. Insbesondere die sprachlichen Anforderungen unterscheiden sich von dem, was die Kinder in der Familie oder außerhalb der Schule erleben.

In anderen Staaten hat man deswegen kontinuierliche Fördermodelle etabliert. Die sind sehr flexibel: Wenn man merkt, dass ein Kind Schwierigkeiten hat, wird zeitnah darauf reagiert, und die Förderung geht kontinuierlich mit dem Bildungsprozess einher.

Bildung Plus: Wie kann die Bildungsbeteiligung und das pädagogische Angebot für die Kinder von zugewanderten Familien vom Vorschulbereich bis zum Sekundarbereich konkret verbessert werden?

Gogolin: Kinder aus zugewanderten Familien sind inzwischen, wenn auch regional unterschiedlich, fast ebenso so gut mit Plätzen im vorschulischen Bereich versorgt wie Kinder aus nicht zugewanderten Familien.

Was die pädagogischen Angebote betrifft, haben wir in der Tat  Probleme. Im vorschulischen Bereich haben wir eine pädagogische Tradition, die sich sehr darum bemüht, dass Kinder spielerischen Zugang zu vielen Dingen erhalten. Wir haben aber keine große Tradition, sich schon im vorschulischen Bereich mit der kognitiven Entwicklung zu beschäftigen. Das bedeutet unter anderem, dass die gezielte Sprachförderung bislang nicht als Aufgabe der vorschulischen Einrichtungen angesehen wurde.

Dementsprechend wurde das Personal in Kitas auch nicht für vorschulische Sprachförderung qualifiziert. Es hat dies nie in der Ausbildung erfahren und im Grunde genommen keinen Anlass gehabt, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Um die Lage von zugewanderten Kindern zu verbessern, müsste man zu allererst das pädagogische Personal in diesen Institutionen mit solchen Aufgaben wie Sprachförderung vertraut machen.

Sie müssten erfahren: Was bedeutet eigentlich zweisprachiges Aufwachsen für die Sprachentwicklung? Wie kann man überhaupt feststellen, was für sprachliche Kompetenzen ein Kind bereits besitzt? Auch für den vorschulischen Bereich gilt schon, dass  Kinder, die mit zwei Sprachen groß werden,  in beiden Sprachen gefördert werden müssten.

Es wäre darüber hinaus notwendig, angemessene Instrumente zur Diagnostik zu entwickeln - hier müssten wieder beide Sprachen einbezogen sein. Und die Erzieherinnen und Erzieher müssten damit vertraut gemacht werden, mit diesen Instrumenten umzugehen und im Anschluss an ihre Ergebnisse Fördermaßnahmen zu entwickeln, die genau an den ermittelten Kompetenzen eines Kindes anschließen. Das ist wohl der wichtigste Bereich.

In ähnlicher Weise wäre es nötig, die Kinder an ein Vorstellungsvermögen im Umfeld der Zahlen heranzuführen. Auch dies ist, wie wir aus der Forschung wissen, kulturell beeinflusst. So sind beispielsweise Zeitkonzepte oder Arten zu zählen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich. Es wäre gut, wenn die Kinder nicht erst in der Schule damit konfrontiert werden.

Bildung Plus: Welche Rolle spielt die frühe Förderung der Muttersprache und was kann man tun, damit Deutsch keine Fremdsprache bleibt?

Gogolin: Die  Förderung beider Sprachen von zugewanderten Familien ist eine besonders wichtige Voraussetzung für Schulerfolg. Das gilt, genauer, für Kinder, die mit den zwei Sprachen alltäglich leben. Es gilt nicht für Kinder, die einen Migrationshintergrund haben, aber in deren Familien die Sprachen nicht mehr benutzt werden.

Wenn aber beide Sprachen für das Kind bedeutsam sind, dann ist ihre Förderung die Voraussetzung sine qua non dafür, dass sich die gesamte Sprachkompetenz weiter entwickelt. Förderung beider Sprachen wirkt positiv sowohl auf die Zweitsprache als auch auf die Sprache der Familie, das ist nach den vorliegenden Forschungsergebnissen recht eindeutig.

Insbesondere ist der Zusammenhang zwischen Alphabetisierung in beiden Sprachen und der sprachlichen Entwicklung nachgewiesen. Für Kinder, die mit zwei Sprachen leben, ist es eigentlich unerlässlich, dass sie auch in beiden Sprachen den Zugang zur Schrift erhalten, weil sich sonst ihre sprachlichen Kompetenzen gar nicht über Alltags- oder Umgangssprache hinaus weiterentwickeln können.

Der Zusammenhang mit Bildungschancen ist an dieser Stelle evident, denn die Chance in der Schule zu reüssieren, die hängt davon ab, dass Kinder im Laufe ihrer Bildungsbiographie die eher formale, sehr spezifische Art und Weise zu kommunizieren erlernen, die für den Bildungserfolg wichtig ist. Die Sprache der Schule ist nicht die Sprache unseres Alltags, sondern hat, ihre stark formalen Seiten.

Der Zusammenhang mit Bildungschancen besteht darin, dass diese formale Sprache der Schule der Schrift sehr viel näher ist als der gesprochenen Sprache. Die Kinder erlernen dadurch, dass sie Zugang zur Schrift erhalten, gleichzeitig diese formalen Varianten der Sprache. Wenn das nicht in beiden Sprachen geschieht, heißt das auch, dass relativ unvermeidlich ein Teil der Sprachkompetenz, den zweisprachige Kinder mitbringen, regelrecht verkümmert. Und dies wiederum wirkt sich negativ auf die Kompetenz in der anderen Sprache aus.

Das ist ungefähr so, wie wenn Sie einen Läufer trainieren wollen und sagen, ich trainiere jetzt aber nur ein Bein und binde das andere hoch.

Bildung Plus: Welche Anforderungen muss das Innovationsprogramm, das im Gutachten entworfen wurde, erfüllen, um eine dauerhafte Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu gewährleisten?

Gogolin: Eine inhaltliche Anforderung ist, dass ein an Fähigkeiten, nicht an Defiziten orientierter Ansatz entwickelt werden muss. Es geht um Konzepte, die sowohl im schulischen Bereich als auch im vorschulischen Bereich an den Kompetenzen und Stärken ansetzen und nicht an Schwächen und Fehlern der Kinder, denn nur, wenn ich von dem ausgehe, was ein Kind bereits kann, weiß ich, wie ich es weiter fördern kann.

Wir empfehlen außerdem, dass man sich - aus pragmatischen Gründen - konzentrieren sollte auf das Thema "Sprache" im Bildungsprozess, und zwar im Verständnis von Sprache als Element jedweden Unterrichts - also auch: im Fach Mathematik oder im Fach Physik. Es geht weniger um den Deutschunterricht im engeren Sinne, denn die Gesetzmäßigkeiten der Sprache der Schule, von denen ich vorhin sprach, sind je nach Fach sehr unterschiedlich.

In Deutschland gibt es leider keine Tradition in diesem Bereich. Unsere Mathelehrer empfinden sich nicht als Sprachlehrer, sondern eben als Lehrer des Faches Mathematik. Man hält es für die Aufgabe der Deutschlehrer, die Sprache der Mathematik oder der anderen Fächer zu unterrichten. Der Deutschunterricht hat aber eigentlich ganz andere Aufgaben; hier geht es zum Beispiel um die Einführung in das literarische Werk in dieser Sprache.

Die Konzentration auf die sprachliche Förderung sollte erfolgen, weil Sprache so sehr bedeutsam für die Chance auf Bildungserfolg ist. Das hat ja zum Beispiel PISA gezeigt. Wenn sich also möglichst rasch etwas bessern soll, muss man hier ansetzen. 


Ingrid Gogolin, geboren 1950, ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und Mitglied des Executive Committe der European Association for Educational Research (EERA) von 1998 - 2002. Studium für das Lehramt der Sekundarstufe I von 1974 bis 1978. Habilitation am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Titel der Habilitationsschrift: "Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule" - 1991. 

Autor(in): Peer Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 17.11.2003
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