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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 20.11.2003:

"Ein nationaler Bildungsbericht kann nicht in partikularisierter Zuständigkeit entstehen"

Bildung PLUS im Gespräch mit Prof. Dr. Avenarius, dem Sprecher des Konsortiums, das im Auftrag der KMK Anfang Oktober erste Befunde eines nationalen Bildungsberichts vorlegte
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Dr. jur. Hermann Avenarius

Bildung PLUS: Nach PISA und IGLU, nach dem OECD-Bericht und verschiedenen Leistungsvergleichs-Studien aus den Ländern: Was offenbart der Bildungsbericht der KMK, was wir noch nicht wissen?

Avenarius: Die Bedeutung des Bildungsberichts liegt nicht so sehr darin, dass er wesentlich Neues enthält, sondern dass er vorhandene Erkenntnisse systematisch zusammenfasst und in einen größeren Zusammenhang rückt.

Bildung PLUS: Liegt damit auch ein "nationaler" Bildungsbericht vor oder nur ein Schulbericht?

Avenarius: Der Bericht konzentriert sich auf das Schulwesen, in erster Linie auf das allgemein bildende Schulwesen. Diese Beschränkung ist der Kürze der Bearbeitungszeit (sechseinhalb Monate) geschuldet. Die Mitglieder des Konsortiums, das den Bericht vorgelegt hat, sind aber einvernehmlich der Überzeugung, dass ein nationaler Bildungsbericht umfassend angelegt sein muss, also die vorschulische Bildung ebenso einzubeziehen hat wie die berufliche Bildung, die Hochschulbildung und die Weiterbildung.

Bildung PLUS: Herr Prof. Avenarius, Sie waren auch damit befasst, die Grundzüge eines idealen, alle Bildungsbereiche umfassenden Berichtswesen zu entwerfen. Wie sähe denn nun das Konzept für einen Bildungsbericht aus, der alle Bildungsbereiche erfasst?

Avenarius: Das Konsortium hat der KMK in einem gesonderten Band auftragsgemäß auch seine Konzeption einer künftigen Bildungsberichterstattung präsentiert.
Danach müsste ein künftiger nationaler Bildungsbericht

  • sich auf das gesamte Bildungssystem von der vorschulischen Erziehung bis zur Erwachsenen- und Weiterbildung, aber auch auf Institutionen der sozialen Arbeit beziehen;
  • zugleich auf die für Bildungskarrieren relevante Umwelt des Bildungssystems: auf individuelle und soziale Zugangsvoraussetzungen, auf Folgen von Bildungsprozessen im Arbeitsmarkt, bei Beschäftigungsverhältnissen und - generell - im Lebenslauf der Absolventen eingehen;
  • sowohl Informationen über die Struktur - Teilsysteme wie Schultypen, Segmente des Hochschulsystems - als auch über deren Elemente - Curricula, Normen, Zertifikate - enthalten;
  • neben den Institutionen auch die Akteure im Blick behalten und über die Bildungslebensläufe von Teilnehmern des Systems wie auch über berufliche Praxis von Personen innerhalb des Bildungssystems berichten;
  • synchrone und diachrone Informationen liefern, also sowohl über Strukturverhältnisse und Prozesse als auch über Ergebnisse der Arbeit und ihre kurz- und langfristige Entwicklung, Bedeutung und Effekte informieren;
  • nicht nur deskriptiv nutzbar sein, sondern auch in evaluativer Absicht Informationen geben und leistungsbezogene Urteile ermöglichen; 
  • schließlich in relevanten Bereichen mit seinen Daten und Analysen auch den Vergleich mit anderen Bildungssystemen ermöglichen.

Das Konsortium gelangt zu dem Schluss: "Ein nationaler Bildungsbericht, der über Bildung im Lebenslauf kontinuierlich und zuverlässig informieren will, kann nicht in partikularisierter Zuständigkeit entstehen. Das Konsortium ist daher der Meinung, dass bei Anerkennung der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten auch in einem föderalen Staat und auch angesichts der Kulturhoheit der Länder für diese wesentliche Zukunftsaufgabe eine gesamtstaatliche Lösung gefunden werden muss."

Bildung PLUS: Der Bereich Schule fällt in die Zuständigkeit der einzelnen Länder, dort müssen die Entscheidungen getroffen werden. Was kann der Bildungsbericht vor diesem Hintergrund leisten? Wo liegen seine Grenzen?

Avenarius: Der Bildungsbericht kann und will sich über die verfassungsrechtlich verankerte Verantwortung der Länder für das Schulwesen nicht hinwegsetzen. Er enthält Hinweise auf Defizite im Schulsystem. Es ist Sache der Länder, diese Defizite zu beheben. Dabei erscheinen in verschiedenen Bereichen, z.B. bei der Entwicklung von Bildungsstandards und bei der Überprüfung ihrer Einhaltung, koordinierte Anstrengungen durch die Kultusministerkonferenz sinnvoll.

Bildung PLUS: Sie schreiben in Ihrem Bericht: "In der Vielfalt schulstruktureller Ausprägungen in den deutschen Ländern noch ein deutsches Schulsystem zu erkennen fällt schwer". Kann angesichts dieser Gegebenheiten noch von einer Chancengleichheit für alle Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden?

Avenarius: Dass die Vielfalt schulstruktureller Ausprägungen große Probleme mit sich bringt, ist offensichtlich. Man muss dann aber sogleich die Gegenfrage stellen, ob es vorteilhaft wäre, wenn das Schulwesen in Deutschland uniform wäre. Im Übrigen darf man aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit keine falschen Schlüsse ziehen. In der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes beschränkt sich die Wirkung des Gleichheitsgebots (Art. 3 Abs. 1 GG) grundsätzlich auf das Hoheitsgebiet des jeweiligen Landes. Kein Land ist von Verfassungs wegen gehindert, in seinen schulischen Strukturen von den Regelungen anderer Länder abzuweichen. Nur dann, wenn es sich um einen Lebenssachverhalt handelt, der über die Ländergrenzen hinausgreift und eine für alle Menschen in der Bundesrepublik gleichermaßen gewährleistete Rechtsposition berührt, laufen Unterschiede von Land zu Land dem Gleichheitssatz zuwider. Davon kann aber bei der Organisation des Schulwesens nicht die Rede sein.

Bildung PLUS: Sie verweisen nicht nur auf inhaltliche, sondern auch auf strukturelle Probleme des deutschen Schulsystems, wie die Halbtagsschule und die Auslese der Kinder bereits nach Klasse vier. Braucht Deutschland eine neue Struktur-Debatte?

Avenarius: Dazu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Jedenfalls glaube ich, dass gegenwärtig wichtigere Fragen als Probleme der Neuordnung der Schulstruktur im Mittelpunkt der politischen Bemühungen stehen sollten.

Bildung PLUS: Sie stellen fest, dass alle Länder bereits Reformmaßnahmen aufgenommen haben, sie aber nicht evaluieren konnten. Wie schätzen Sie diese Maßnahmen ein und werden sie zu den erhofften Qualitätsverbesserungen führen?

Avenarius: Auch wenn das Konsortium wegen der Kürze der verfügbaren Zeit nicht die Möglichkeit hatte, die Maßnahmen der Länder zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung zu untersuchen, so steht doch außer Frage, dass sämtliche Länder - nicht zuletzt unter den Nachwirkungen der PISA-Befunde - große Anstrengungen unternommen haben und weiter unternehmen, die Defizite des jeweiligen Schulsystems zu beheben und die Qualität der schulischen Arbeit zu verbessern. Ob und wie weit die Maßnahmen im Einzelnen geeignet sind, die angestrebten Ziele zu erreichen, dazu bedürfte es systematischer wissenschaftlicher Erhebungen.


Dr. jur. Hermann Avenarius ist Professor für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main. Er ist Sprecher des Konsortiums Bildungsberichterstattung, das im Auftrag der Kultusministerkonferenz Anfang September 2003 einen ersten nationalen Bildungsbericht vorgelegt hat. Dem unter Federführung des DIPF tätigen Konsortium gehören außer Prof. Avenarius an: Prof. Dr. Hartmut Ditton, Ludwig-Maximilians-Universität München; Dr. habil. Hans Döbert, DIPF; Prof. Dr. Klaus Klemm, Universität Duisburg-Essen; Prof. Dr. Eckhard Klieme, DIPF; Dipl.-Päd. Matthias Rürup, DIPF; Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth, Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. Horst Weishaupt, Universität Erfurt, und Prof. Dr. Manfred Weiß, DIPF.

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 20.11.2003
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